„Pass auf USA, die ‚Euros‘ werden immer stärker!“ Mit der charmanten Übertreibung, zu der Amerikaner fähig sind, glaubte Brian Hoeniger, Kommentator des Weltverbandes PDGA, die US-Pros nach der Disc Golf-Europameisterschaft warnen zu müssen. Doch Hoenigers Erkenntnis war nicht aus der Luft gegriffen.
101 Disc Golfer spielten in Genf unter Platzstandard
Nie zuvor in der EM-Historie zeigten europäische Spieler eine solche Leistungsstärke und -dichte: 101 der 198 Teilnehmer absolvierten den anspruchsvollen 2.395 Meter langen Kurs im Genfer Parc des Evaux (Par 65) unter Platzstandard. Allein 60 der 94 Open-Spieler! Der Leading Flight in der Open-Division – Seppo Paju (1038), Simon Lizotte (1036), Juho Parviainen (1034) und Pasi Koivu (1028) – spielte in den vier Runden auf Weltklasse-Niveau. Rang zehn ging nur mit einem durchschnittlichen PDGA-Rating von 1011 über den Ladentisch, der 20. Platz mit 995.
Leistungs-Explosion in allen Divisionen
Die Sieger anderer Divisonen wollten bei dieser „Leistungs-Explosion“ nicht zurückstehen. Der Masters-Sieger Ville Piippo (1014) aus Finnland, Spaniens überlegener Grandmaster-Champion Carlos Rio (1010), der beste Senior Grandmaster Markku Tohni (918) oder die mit dem bescheidenen PDGA-Rating von 850 angereiste Finnin Jenni Eskelinen (924) spielten deutlich über ihre Verhältnisse. Deutschlands neuer Junioren-Europameister Marvin Tetzel (993) musste sein ganzes Potenzial ausreizen, um seine skandinavischen Rivalen Lindberg (991), Rättyä (991) und Kappling (989) in Schach zu halten.
Die irre Aufholjagd des „Sidearm-Monsters“ Ville Piippo
Nie zuvor gab es bei EM-Titelkämpfen so spannende Wettbewerbe. Die Entscheidung in fünf der sechs Divisionen fiel erst in der Finalrunde. In dreien wurde der Champion erst mit dem letzten Putt gekrönt. Die irrste Aufholjagd lieferte ein einschlägig Bekannter auf diesem Gebiet: Ville Piippo. Das „finnische Sidearm-Monster“ (Michl Priester) schien sechs Bahnen vor Schluss bei einem Rückstand von fünf Würfen auf Peter Bygde mausetot. Doch während der Schwede glaubte, sich mit sicherem Par-Spiel ins Ziel zu retten, zimmerte Piippo fünf Birdies hin und entriss Bygde die Goldmedaille. Pechvogel Bygde. Bereits vor zwei Jahren in Colchester hatte er den Titel im Stechen gegen den Schweizer Stephan Müller vergeigt. What a pity! Und Aufholjagd-Spezialist Piippo? Kein Augenzeuge wird je vergessen, wie dieser Bursche beim Finale der EM 2008 vor mehr als 1000 Zuschauern im Heidenheimer Brenzpark dem mit neun Würfen (!) führenden Norweger Espen Mokkelgjerd noch den Titel raubte.
Nie zuvor bei einer EM war ein Team so dominant wie die Finnen in Genf: Viermal Gold, zweimal Silber und Bronze. Nicht einmal die Schweden – die in Genf ein Debakel erlebten – in ihrer besten Zeit hatten eine solche Bilanz vorzuweisen.
Team Finnland: die neuen „Kannibalen“ im europäischen Disc Golf
Die Finnen gewannen überlegen den Nationen-Cup mit 1360 Punkten vor Schweden (1028), der Schweiz (706) und Deutschland (596). Und beim abschließenden Doubles-Wettbewerb holten sich Seppo Paju mit Ellinoora Heikkilä (Mixed) sowie Jalle Stoor und Nils Iso-Markku auch noch die letzten Titel. „Kannibalismus“ auf finnisch. The winner takes it all.
Nur Simon Lizotte trotzt in der Open-Kategorie der Finnen-Phalanx
20 der 23 Spieler und Spielerinnen des Suomi-Teams kamen „ins Geld“. Sie sahnten allein 17.700 des 40.000-$-Preisgeldes (44,25 %) ab. Lediglich Deutschlands „Wunderkind“ Simon Lizotte war in der Open-Kategorie in der Lage der finnischen „Phalanx“ – fünf Spieler unter den ersten Sechs, sieben in den Top Ten – Paroli zu bieten. Der frühere Weltklasse-Spieler Jussi Meresmaa, einer der Hauptverantwortlichen für den Discgolf-Boom in Finnland, darf sich die Hände reiben. Die Saat ist aufgegangen. Also nicht nur wegen der PISA-Studie und der vorbildlichen Kindergarten- und Schuleinrichtungen lohnt es, den Blick nach Norden zu richten.
Schweizer Veranstalter schütten Rekord-Preisgeld aus: 30.000 Euro
Nie zuvor gab es bei einer EM soviel Preisgeld zu gewinnen. Kompliment an die Schweizer Veranstalter, die fleißig Geld bei Sponsoren eingesammelt hatten und mehr als 30.000 Euro an die Spieler und Spielerinnen ausschütteten, fast viermal mehr als bei der „Peanuts-EM“ in Colchester 2012 (8000 Euro).
Gute Bilanz des deutschen Teams: einmal Gold, einmal Silber
Mit Gold durch Marvin Tetzel und Silber für Simon Lizotte wiederholte das deutsche Team annähernd seine gute Bilanz von 2012. Jerome Braun (14.) zeigte nicht nur in der genialen zweiten Runde mit 53 Würfen (zwölf unter Par), dass er zu den wenigen Spielern in Deutschland zählt, die auf internationalem Top-Niveau konkurrieren können. In Genf übertraf der Berliner mit einem durchschnittlichen Runden-Rating von 1008 die Erwartungen.
Michael Stelzer aus Söhnstetten, designierter German-Tour-Sieger 2014, bewies mit Platz 21 (durchschnittliches Runden-Rating: 991) seine gute, stabile Form in diesem Jahr. Auch Kevin Konsorr (989) aus Lünen überzeugte mit Platz 24. Respekt für Christian Plaue: Der Grebensteiner war mit einem Vierfach-Bogey an der Insel-Bahn eins und einer 68er-Runde ins Turnier gestartet und ackerte sich in den folgenden drei Runden mit einem durchschnittlichen Rating von über 1000 von Platz 72 auf am Ende Rang 31 vor. Dominik Stampfer aus Heidenheim, vor zwei Jahren bei der EM noch 20., hatte sich sicher mehr ausgerechnet als Platz 39, ebenso wie Nikolai Tsouloukidse (Berlin), der vor Ralf Hüpper 51. wurde. Sven Rippel aus Bergkamen (42.), der aufgrund seines Studiums im Sport zurückstecken muss, steigerte sich im Laufe des Turniers und bot in der letzten Runde (58) seine beste Leistung.
Christine Hellstern: „Flow“-Gefühle in der zweiten Runde
Diese Runde wird Christine Hellstern (Oberkirch) ihr Leben lang nicht vergessen: eine bogeyfreie Par-Runde (65) am zweiten Tag der EM. Keine der 22 Damen spielte während des Turniers eine bessere Runde „Flow“-Gefühle pur. Von solchen Runden träumen Discgolfer. Deshalb spielen sie dieses Spiel. Schade, dass nach einer 82er-Runde am Schlusstag am Ende „nur“ Platz zehn heraussprang. Eine 82 in Runde zwei verpatzte auch Susann Fischer (13./Potsdam), einer potentiellen Top-Ten-Spielerin, den Score. So war die in Turin wohnende und für Italien startende Ann-Christin Kleimann auf Rang neun beste Deutsche.
Klaus Kattwinkel (Engelskirchen) hatte sich in der zweiten Hälfte des Turniers auf den Kurs eingespielt. Zwei 61er-Runden reichten allerdings nur noch, um sich in der Masters-Kategorie auf Platz 20 zu verbessern. Jan Bäss, der durch eine Wildcard von Team-Kapitän George Braun ins Team gekommen war, gehörte bei den Masters im Vorfeld zu den zehn Spielern mit dem besten PDGA-Rating. Mit Platz 22 blieb er deutlich unter seinen häufig demonstrierten Möglichkeiten. Der für die Niederlande startende Uwe Walter Schlüter wurde 32.
Junioren und Grandmaster Spitze
Junioren und Grandmaster lieferten eine prima Vorstellung ab. Marvin Tetzel (siehe vorheriger Bericht) gewann den Titel. Und auch Torben Casser überzeugte mit Platz sechs in einer Konkurrenz auf allerhöchstem Niveau. Nach zwei Runden auf Rang drei liegend schien sogar der Gewinn einer Medaille möglich. Doch eine schwächere dritte Runde durchkreuzte diesen Traum. Dennoch eine Top-Leistung des 17-Jährigen bei seiner EM-Premiere (Durchschnittliches Runden-Rating 971).
Die Plätze sechs und neun für George Braun (Berlin) und Wolfgang Kraus (Trebur) spiegeln die Leistung der beiden Grandmaster, die im Schnitt 20 Punkte über ihrem aktuellen PDGA-Rating spielten, nur ungenügend wider. Nach vier Runden hatten Braun lediglich zwei, Kraus vier Würfe Rückstand auf Platz vier und Titelverteidiger Derek Robins (England). Im Doubles-Wettbewerb fehlte George und Jerome Braun nach einer 50er-Runde nur ein Wurf zu Bronze. Wolfgang Kraus und Christine Hellstern belegten in der Mixed-Kategorie mit einer 61er-Runde Platz fünf.